Gymnasiumstr.10
Österreich
Fundstück aus einer grenzenlosen Welt
Fundstück aus einer grenzenlosen Welt
Ich halte eine Feder in der Hand. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen dringen durch die fein strukturierte Maserung der zarten Daunen. Der Wind zerzaust die gleichmäßig angeordneten, weichen Stränge, zerrt an ihnen, will sie forttragen. Ich lasse die Feder los, betrachte sie bei ihrem Tanz durch die Luft und wende meinen Blick erst ab, als sie sich vollständig im tiefdunklen Blau des Sommerhimmels aufgelöst hat.
So wie eine durch den Wind trudelnde Feder sollte das Leben sein - ohne Einschränkungen, ohne Sorgen, ohne Ängste. So wie ein unbeschwertes, staunendes Kind sollten wir die Welt betrachten: als Geschenk, und nicht als Last. Leider sieht diese Wunschvorstellung weitaus rosiger als die Realität aus: Familien müssen wegen ihrer Herkunft um ihr Leben bangen, Unschuldige werden wegen ihrer Meinung gefoltert, Kindern werden Waffen in die Hand gedrückt, ganze Völker müssen aus ihren Heimatländern fliehen. Wie kann das passieren? Ist der Mensch wirklich ein so grausames Wesen? Ist all dieses Leid auf der Welt wirklich notwendig?
Dazu sollten wir uns die Fragen stellen, die ein Gast sich stellen würde, der die Sitten und Bräuche unserer Gesellschaft nicht kennt, um zu verstehen, inwieweit wir uns selbst verändern müssten, um eine Veränderung in der Welt zu verwirklichen. ‚Muss man eine so vielfältige, vor Einzigartigkeit überquellende Erde wirklich mit Peitschenhieben und Pistolenkugeln gewaltvoll in die Knie zwingen? ‘ ‚Warum zerstört ihr eure wertvollsten Lebensräume, um sie in Schutt und Asche zu legen? ‘ ‚Warum lernt ihr nicht aus eurer Umwelt, sondern legt sie in Ketten, sodass sie eure Fehler nicht entlarvt? ‘‚Warum akzeptiert ihr nicht, das eure Schwächen euch als Menschen überhaupt erst ausmachen? ‘ ‚Warum werden Menschen, die anders denken, als ihr selbst, aus eurer Gesellschaft ausgeschlossen?‘
Wir müssen endlich Verständnis und Respekt für Andersdenkende zeigen. Wir müssen ihnen ihre Rechte zurückgeben, die wir ihnen durch unseren gewaltvollen Umgang geraubt haben. Um sich wirklich frei entscheiden zu können, braucht man ein starkes Gegenargument, das uns nur ein Andersdenkender bieten kann. Denn sonst starren wir weiterhin in eine Richtung, in der wir verharren, und die uns durch ihre Monotonie unsere Träume von einer barrierefreien Erde nimmt. Eine Welt ohne Grenzen: Das ist eine Gesellschaft, die sich niemals mit einer einzigen Antwort zufrieden gibt. Das sind Menschen, die nicht nur von Veränderung sprechen, sondern die auch bereit sind, eine Veränderung durchzuführen. Das ist eine lebendige, farbenfrohe Aneinanderreihung von Liebeserklärungen ans Leben. Das ist mein Traum von einem freien, friedlichen Dasein für alle.
Wir leben in einer Welt voller Wunder. In einer Welt, in der ein Regenschauer ausreicht, um aus einem Samen eine Blüte zu machen. In der ein Sonnenstrahl ausreicht, um aus einer Träne ein Lächeln zu machen. In der ein Blick ausreicht, um fremde Menschen zu verbinden. Warum erkennen wir nicht, dass ein Wille ausreichen würde, um aus einem Krieg Frieden zu machen? Man kann nicht glücklich sein, wenn man sein ganzes Leben lang unter einem gewaltvollen Einfluss steht oder wenn man selbst Gewalt ausüben muss, um zu seinen Zielen zu gelangen. Um mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seine Träume zu erreichen, braucht man Frieden, einen Frieden, für den man nicht kämpfen muss, denn Kämpfe hat diese Welt schon genug gesehen.
Wir brauchen einen Frieden, von dem wir alle überzeugt sind. Wir brauchen einen Frieden, der niemals nur in eine Richtung lenkt, sondern der sich mit Weitblick in alle Dimensionen ausbreitet. Wir brauchen einen Frieden, den man ohne Zwänge weiterträgt. Wir brauchen einen Frieden, der die Menschen vergessen lässt, wie es war, mit Waffen zu kämpfen und wie es war, die Hand gegen seine Gefährten zu richten.
Schon lange ist die Feder davongeflogen, doch aus meinem Gedächtnis verschwunden ist sie nicht. Ich stelle mir vor, wie sie hoch über unseren Köpfen schwebt - von Frischluft und Freiheit umgeben, vom Sausen und Brausen des Windes geleitet, und wie sie unsere Welt bereist, ohne den kleinsten Teil davon zu zerstören. Sie lehrt mich, was viele von uns nicht wissen: Man muss andere verstehen, um sich eine Meinung über sie bilden zu können. Wir müssen unsere Welt in all ihren Facetten verstanden haben, um entscheiden zu können, ob wir wirklich weiterhin Macht über sie ergreifen, oder für unsere Nachkommen einen Raum der Freiheit schaffen wollen.
Bild: Theresia Pürmayr, Katharina Briksi, Margaretha Briksi, Petra Weirather, Romana Lampl