Dein Bild - deine Geschichte Ein Wettbewerb des Buchklubs
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Privat
 
Name
Felix Merten
Adresse
4293 Gutau
Schöferhof 33
Österreich
Weihnachten unter dem Brandenburger Tor Bild

Weihnachten unter dem Brandenburger Tor

Weihnachten unter dem Brandenburger Tor





„Was soll ich denn schreiben?“ überlege ich laut, „ hm, offene Grenzen, was fällt mir da ein? Soll ich meine eigenen Grenzen beschreiben? Aber man braucht ja auch ein Symbol …“

In diesem Moment klopft es an der Tür und Carola kommt herein. Carola ist eine Nachbarin von uns. Viele Jahre hat sie in der DDR gelebt.
„Carola, fällt dir ein Symbol zum Thema offene Grenzen ein?“ frage ich nur zum Spaß. Carola nimmt Platz und beginnt zu erzählen:
„Das wichtigste Symbol für mich ist das Brandenburger Tor in Berlin und weißt du auch warum? Willst du meine Geschichte hören?“
„Ja natürlich!“, ich bin begeistert.
„Als ich neun Jahre alt war“, erzählt Carola, „nahm mich mein Vater mit nach Berlin. Wir übernachteten in einem Hotel, das ganz nahe an der Berliner Mauer stand. Man konnte vom Hotelzimmer aus auf die Mauer sehen und das hat mich als Kind damals sehr bewegt, weil alles so groß war. Vor allem die Größe des Brandenburger Tores hat mich beeindruckt. Ich hab zu meinem Vater gesagt, dass ich einmal durch dieses Tor gehen möchte. Und mein Vater hat geantwortet, du kannst es ja einmal versuchen, aber es kann auch sein, dass sie dich erschießen. Es war damals so: jeder, der der Mauer zu nahe kam, wurde von einem Grenzsoldaten erschossen. Da standen immer Soldaten mit Maschinengewehren!“
Carola hält kurz inne und schweigt. Ich merke, dass ihr diese Geschichte nahegeht. Wir trinken einen Schluck Tee zur Stärkung.
Carola schaut aus dem Fenster und erzählt weiter:
„Später hab ich dann eine Zeitlang in Berlin gewohnt, auch zu dem Zeitpunkt, als die Berliner Mauer gefallen ist. Die Mauer ist eigentlich durch ein Missverständnis gefallen. Es gab eine Pressekonferenz, bei der Günther Schabowski, ein Mitglied des Politbüros in der DDR, einen Text vorgelesen hat, den er vorher noch nie gelesen hatte. In dem Text stand, dass die Bürger der DDR auch ins westliche Ausland reisen dürfen und er hat erst, als er den Text vorgelesen hatte, bemerkt, was das eigentlich bedeutete! An diesem Abend saßen vermutlich über eine Millionen Leute vor dem Fernseher und sprangen sofort auf und liefen auf die Straße.
Dann sind tausende Leute vor dem Grenzübergang gestanden und die Grenzsoldaten, die eigentlich bewaffnet waren und einen Schießbefehl hatten, konnten nicht einfach in die Menge schießen. Da merkte man, dass auch Soldaten nur Menschen sind. Also, wenn da nur ein einzelner gekommen wäre, hätten sie ihn wahrscheinlich erschossen. Aber dadurch, dass es so viele Menschen waren und diese so glücklich waren, hatten sie es leid zu schießen.
Ich war an dem Abend krank und mein Mann kam ins Schlafzimmer und rief mir zu, dass die Grenzen offen sind. Ich meinte nur, dass das nicht wahr sein könne und sagte, er solle mich in Ruhe weiterschlafen lassen. Am nächsten Morgen erzählte ich ihm, dass ich etwas Schlechtes geträumt hatte, dass er mir gesagt hätte, dass die Grenzen offen sind und er meinte ganz aufgeregt, ja, es stimmt, die Grenzen sind wirklich offen!
Dann waren wir erstmal beide ganz still und haben uns umarmt.“
Carola nimmt einen weiteren Schluck Tee. Sie lehnt sich zurück. Wahrscheinlich hat sie ein Bild vor ihren Augen, das ich nicht sehen kann. Sie gibt sich einen Ruck.
„Ich arbeitete damals direkt an der Mauer. Am nächsten Morgen bin ich früh wie immer zur Arbeit gefahren. Irgendwie waren alle total freudig erregt, fast benebelt von diesem Gefühl, die Mauer ist offen. Es war noch ganz viel Zweifel dabei, es war ein sehr seltsames, aber schönes Gefühl. In der Arbeit waren alle Kollegen total aufgeregt und begeistert, manche waren sogar am selben Abend noch in Westberlin gewesen. Ich bin dann zu meinem Chef gegangen und hab ihm kurz die Situation geschildert, dass ich halt krank war. Ich hab ihn auch gefragt, ob ich mit einer Kollegin einmal nach Westberlin fahren könnte. Ich wollte das unbedingt, denn ich war mir ja nicht sicher, ob es stimmt, schließlich war der Grund, weswegen die Mauer in Berlin durchlässig gemacht worden war, ja ein Missverständnis. Ich hab immer geglaubt, dass es nicht wahr ist, dass die Mauer wieder geschlossen wird. Und mein Chef hat gesagt, ja, geht nur schnell, wer weiß, wie lange die Mauer noch offen ist. Wir haben also an diesem Tag frei bekommen, und ich bin mit meiner Kollegin durch diesen Grenzübergang gegangen. Der Grenzübergang war 300 Meter lang, voller Absperrzäune, Stacheldrahtzaun, Elektrozaun, da musste man dran vorbei. Dann kam man an eine Stelle, an der noch viele Grenzposten waren, dort haben wir einen Visumstempel in unseren Ausweis bekommen. Ja, und dann war ich in Westberlin. Das war ein sehr ergreifendes Gefühl für mich. Meine ganze Familie war auf der anderen Seite, und man war sich ja nicht sicher, ob man wieder zurück kann. Obwohl Deutschland ein Land ist, und Berlin eine Stadt, war ich plötzlich irgendwie in einer anderen Welt. Mir fiel sofort auf, wie farbenfroh Westberlin war, die Häuser so bunt, die Anoraks und Schulranzen so bunt, so etwas gab es in der DDR nicht; Diese Buntheit und Lebendigkeit in Westberlin hat mich sehr beeindruckt. Wir haben getanzt und gelacht und geweint!“
Während ich Carola zuhöre fühle ich mich immer mehr traurig und bedrückt. Ich frage mich, wieso es in unserer Welt solche Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit gibt.

Carola hält noch einmal inne, aber ich weiß, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist:
„1989 im Dezember, genau am 24. Dezember bin ich tränenüberströmt das erste Mal unter dem Brandenburger Tor gestanden und habe gedacht, so, und jetzt gelingt es dir, durch dieses Tor zu gehen!“

Das Gespräch mit Carola beschäftigt mich noch lange. Oft mache ich mir Gedanken darüber, wie es mir in so einer Situation gehen würde. Vorher war es für mich selbstverständlich, aber jetzt weiß ich es viel mehr zu schätzen, dass ich gehen kann, wohin ich will.

Eva Merten Herta Wiesmayer Carola Geisler