Ramsau 192
Österreich
Endlich Frei
Harald Mair, geboren am 9. März 1961, wohnhaft in Berlin, Waisenkind seit seinem 17. Lebensjahr.
Donnerstag, 8. November 1989
Tag 1:
Heute war irgendwie ein seltsamer Tag. Die Stimmung in der Stadt schien angespannt zu sein. Jeder hat sich merkwürdig und unruhig verhalten. Warum nur?
Freitag, 9. November 1989
Tag 2:
Alle wünschten sich den Fall der Mauer, aber keiner traute sich, seine Meinung zu äußern. Das Leben ist ja kein Wunschkonzert! Was unmöglich schien, wurde binnen eines Augenblicks zur Realität. Ich zündete mir eine Zigarette an und tauchte in die Menschenmenge ein. Die Menge schrie: “ FREIHEIT!“ Die Menschen halfen einander, die Mauer zu erklettern. Dürfen wir das? Wird niemand auf uns schießen? – Diese Gedanken jagten durch meinen Kopf.
Samstag, 10. November 1989
Tag 3:
Freiheit - dieses Gefühl hatte ich in meinem ganzen Leben nicht gekannt. Freiheit - fühlte sich so merkwürdig an. In der Mauer war ein gigantisches Loch und jeder konnte durchgehen, was für mich ziemlich komisch war. Viele Menschen hatten sich entschlossen, Ostberlin zu verlassen, um im Westen Neues zu entdecken. Ich entschied mich dafür, dasselbe zu tun, aber dann für immer.
Montag, 4. Dezember 1989
Tag 24:
Der Tag ist gekommen. Ich habe so lange davon geträumt. Jetzt ist es soweit?!?! Endlich kann ich Ostdeutschland verlassen. Ich weiß nicht, was mich auf der anderen Seite erwartet. Das ist jedoch Nebensache. Die Reise beginnt, auf Wiedersehen Deutschland.
Montag, 18. Dezember 1989
Tag 38:
Ich bin nun schon eine Weile in London und habe viel erlebt. Am spannendsten war die Fahrt von Deutschland bis hierher. Ich fuhr mit dem Zug bis nach Hannover. Von dort aus mit dem Bus weiter über Hessen nach Brüssel. Im Bus lernte ich eine nette Dame kennen, die mich in ihrem Auto bis nach Ostende mitnahm. Von dort ging es mit dem Schiff nach Chichester und schließlich mit dem Bus nach London. Als ich endlich dort ankam, ist mir sofort das Gefühl der Freiheit wieder begegnet. Die Menschen in London schienen keine Sorgen zu haben, sie lebten unbekümmert ihr Leben. Ich war auch begeistert von der Stadt selbst. Es gab so viele Möglichkeiten, die ich natürlich sofort genutzt habe. So fuhr ich zum Beispiel mit einem roten Doppeldeckerbus nach China Town und ließ es mir gut gehen. Ich musste allerdings mit dem Geld ein wenig haushalten, denn mehr als 4000 D-Mark besaß ich nicht.
Sonntag, 7. Jänner 1990
Tag 58:
Es wurde Zeit, von London Abschied zu nehmen und weiter nach Paris zu reisen. Ich hatte Glück und habe ein Schiff nach Frankreich erwischt. Von der Normandie fuhr ich mit dem Bus gradewegs nach Paris und der erste Eindruck war schockierend. Überall lag Müll auf den Straßen und es stank unheimlich nach Urin. Doch all das wurde unwichtig, als ich vor dem Eiffelturm stand. Ich stieg hinauf und sah mir die Stadt aus einer anderen Perspektive an. Es war unglaublich: Die Menschen sahen aus wie kleine Ameisen. Die Zeit in Paris verging wie im Flug und mir war klar, ich müsste mir Arbeit suchen, damit meine Finanzen nicht gleich aufgebraucht sind. Ich dachte draußen auf dem Land würde ich leichter etwas finden, doch keiner wollte mich, außer eine Familie mit deutschen Wurzeln. Der Mann hieß Stefan und hatte eine unglaublich schöne Tochter namens Isabelle. Mit ihren weißblonden Haaren und ihren blauen Augen sah sie für mich aus wie ein Engel. Am Abend half ich ihr und ihrer Mutter beim Abwasch und unsere Hände berührten sich dabei. Sie wurde ganz rot im Gesicht. Ist das etwa ein Zeichen?
Montag, 5. März 1990
Tag 115:
Isabelle und ich sind nun zusammen und wollen unser Leben gemeinsam gestalten. Deshalb hat sie beschlossen, mit mir weiter nach Lissabon zu reisen. Das wird unser nächstes Ziel sein und es soll etwas Besonderes werden. Wir konnten uns das Auto von ihrem Vater ausleihen und sind mit diesem in zwei Tagen bis nach Albufeira gefahren und von dort weiter nach Lissabon, wo es schon ziemlich warm war, viel wärmer als in Paris. In Lissabon haben wir gemeinsam mit einem Reiseführer die schöne alte Stadt besichtigt. Wir waren beide sprachlos, als wir den „Torre de Belem“ sahen, den sowohl Isabelle als auch ich nur von Fotos kannten. Am Donnerstag geht es dann gemeinsam mit meiner Liebsten zurück nach Deutschland.
Diese „Reise in die Freiheit“ hat alle meine Erwartungen übertroffen. Ich habe so viel Neues entdeckt und sogar die Liebe meines Lebens gefunden. Ich hoffe nur, Isabelle wird Deutschland als neue Heimat gefallen und unser „Traum vom Glück“ wird in Erfüllung gehen.