Gaißauerstraße 68
Österreich
Johannes
Einsam und verlassen lag es da. Die Mauern waren eingestürzt, Schutt lag auf dem Boden. Es gehört nicht in diese Zeit und genau deshalb war sie hier. Sie suchte sich einen Weg durch die Trümmer, versuchte sich vorzustellen, wie das Leben vor dem Krieg war. Wie das Leben vor der Mauer war. Sie schoss ein Foto, notierte etwas, sammelte Ideen für ihr Schulprojekt.
Es war fast dunkel, als sie fertig wurde. Es hatte lange gedauert und sie war nur noch erschöpft. Aber sie hatte fertig werden müssen. Morgen würde das Haus weg sein, abgerissen in dem Versuch, alles zu zerstören, was davor war.
Sich einen Weg zurück bahnend hätte sie es im Schatten der Wände beinahe übersehen, doch der staubige bunte Umschlag zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie trat näher, nahm mit zitternden Fingern das alte Buch auf. Als sie es aufschlug, fiel ein Teil der Seiten auf den Boden. Das Papier war gelb geworden, die Handschrift geschwungen. Die ersten Worte, die sie las, brachte sie nicht nur in eine andere Zeit, sondern auch in eine andere Welt.
Liebes Tagebuch! 04.09.2014
Heute habe ich mich wieder mit Johannes auf der Insel getroffen. Eigentlich hätte ich in der Schule sein sollen, aber ich musste ihn unbedingt noch einmal sehen bevor er morgen wieder zurück nach Südafrika fährt. Er war ja nur hier, um seine Oma zu besuchen.
Sie hielt inne und lass die letzten Wort noch einmal. Um seine Oma zu besuchen… Südafrika? Wie war das möglich? Sie konnte es nicht verstehen.
Also bin ich am Morgen statt in die Schule zum See gefahren. Es war noch recht frisch als ich dort ankam. Ich sah zum andern Ufer, zum Nachbarland, ob Johannes schon da war, doch ich sah ihn nicht. Mein Blick wanderte weiter zur Insel mitten im See, die Grenze zwischen den Ländern. Auch dort war er nicht zu sehen. Also setzte ich mich ans Ufer und hing meinen Gedanken nach:
Wie es in Südafrika wohl aussieht? Schade, dass ich nicht das Geld habe, um nach Südafrika zu fliegen. Man kann problemlos nach Südafrika fliegen, immerhin sind die Grenzen offen. Auch die Grenzen zum Nachbarland sind offen, deshalb ist es ja auch kein Problem, dass Johannes und ich uns auf der kleinen Insel treffen. Es ist so cool, dass die Grenze der zwei Länder genau über diese Insel läuft. Ob es so etwas auch in Südafrika gibt? Ich schwöre, sollte ich zu Geld kommen, fliege ich nach Südafrika!
Vor ihr in einiger Entfernung war eine Mauer. Männer mit Gewehren patrouillierten auf und ab. Scheinwerfer leuchteten den Boden ab.
Was war auf der anderen Seite?
Kriminelle?
Monster?
Oder vielleicht Johannes?
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Rufe! Ich sah auf. Johannes stand auf der kleinen Insel. Schnell stand ich auf und schwamm zur Insel.
Meine erste Tat auf der Insel: ich fiel ihm um den Hals. Ich wollte ihn küssen, konnte aber nicht. Ich hatte ihn einfach zu gern, um unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzten. Wir setzten uns hin quatschten und spielten Uno.
Erst am Abend verabschiedeten wir uns. Ich versuchte nicht zu weinen, aber so ganz klappte es nicht. Johannes lachte zwar darüber, aber ich glaube, er hatte auch Tränen in den Augen.
Ich bleibe dabei: Sollte ich jemals zu Geld kommen, fliege ich nach Südafrika und zu Johannes.
Als sie fertig war, sah das Mädchen mit gedankenverlorenem Blick auf, das Tagebuch lose in den Händen. Eine Träne rann unbemerkt über ihre Wange. Eine Träne für Johannes. Den, den sie niemals kennen sollte, denn er war verloren. Verloren auf er anderen Seite der Mauer.
Regina Gehrer: Text und Foto
Leonie Beuerle: Fotomodell
Amelie Heidegger: Fotomodell